Vertagt. Verschoben. Verloren? - Wie die Union die Wahl einer Verfassungsrichterin politisierte
Eine hochqualifizierte Juristin, die sich für reproduktive Selbstbestimmung starkmacht. Ein Plagiatsverdacht, der sich nicht hält, aber politisch wirkt. Und eine Union, die sich treiben lässt.
Frauke Brosius-Gersdorf, eine angesehene Staatsrechtlerin und SPD-Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, sollte am 11. Juli 2025 gemeinsam mit zwei weiteren Nominierten vom Bundestag gewählt werden. Doch wenige Stunden vor der Abstimmung informierten CDU/CSU-Fraktionschef Jens Spahn und Parteichef Friedrich Merz die SPD, dass die Union Brosius-Gersdorf nicht unterstützen werde. Die Wahl wurde daraufhin kurzfristig vertagt.
Ein demokratisch geplantes Verfahren wurde damit abrupt gestoppt – mit Verweis auf einen am Vorabend öffentlich gewordenen Plagiatsvorwurf. Der Verdacht kam von Stefan Weber – einem Plagiatsgutachter, der seit Jahren mit öffentlichen Recherchen zu wissenschaftlichen Arbeiten für Aufmerksamkeit sorgt. Sein Geschäftsmodell besteht darin, Dissertationen, Aufsätze und Bücher auf unsaubere Quellenarbeit zu prüfen – häufig bei prominenten Personen. Webers Arbeit ist nicht unumstritten: Immer wieder stehen seine Bewertungen in der Kritik, manche seiner Anschuldigungen erwiesen sich später als haltlos.
Auch im Fall Brosius-Gersdorf berief sich die Union auf Webers Recherchen. Er hatte ihre Dissertation aus dem Jahr 1997 mit der Habilitation ihres Ehemanns Hubertus Gersdorf (1998) verglichen und auf Textähnlichkeiten hingewiesen. In der CDU/CSU-Fraktion war daraufhin von „Plagiatsvorwürfen“ die Rede, CDU-Abgeordnete wie Klaus-Peter Willsch sprachen von „Zweifeln an ihrer akademischen Redlichkeit“, Saskia Ludwig forderte sogar öffentlich, Brosius-Gersdorf solle ihr Amt an der Universität ruhen lassen.
Doch Weber selbst trat auf die Bremse. Gegenüber der ZEIT sagte er:
„Ich habe keinen Plagiatsvorwurf gegen Frau Brosius-Gersdorf erhoben.“
Er habe nur untersucht, dass es „große Textübereinstimmungen“ gebe – was aber nicht bedeute, dass Brosius-Gersdorf abgeschrieben habe.
Ob tatsächlich ein wissenschaftliches Fehlverhalten vorliegt, ist bislang völlig offen. Fest steht nur: Der Zeitpunkt der Veröffentlichung, ihre politische Wirkung – und die schnelle Reaktion der Unionsfraktion lassen Zweifel an den tatsächlichen Motiven aufkommen.
Eine Richterin mit Haltung – und eine Union, die sich treiben lässt
Brosius-Gersdorf ist eine profilierte Juristin mit klaren Positionen. Sie war Mitglied der Bundestagskommission zur Reform des §218 und sprach sich für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen aus. In Fachartikeln argumentierte sie, dass die verfassungsrechtliche Menschenwürde ab Geburt beginne. Sie wandte sich gegen pauschale Kopftuchverbote für Rechtsreferendarinnen und befürwortete während der Pandemie eine Impfpflicht.
Für viele in der Union war das offenbar unvereinbar mit dem höchsten juristischen Amt. CDU-Abgeordnete äußerten öffentlich Zweifel an ihrer Eignung und bezeichneten sie als „unwählbar“. Innerhalb der Fraktion kündigten zahlreiche Abgeordnete ihre Ablehnung an.
Bereits vor dem Plagiatsvorwurf liefen in rechtspopulistischen und antifeministischen Medien Kampagnen gegen Brosius-Gersdorf – insbesondere wegen ihrer Haltung zur reproduktiven Selbstbestimmung.
Dabei ist klar: Brosius-Gersdorf hat sich nicht parteipolitisch geäußert, sondern wissenschaftlich argumentiert. In der juristischen Fachwelt gilt es als selbstverständlich, dass Professor*innen Positionen vertreten, Thesen aufstellen und das Recht weiterentwickeln. Unterschiedliche Meinungen sind kein Zeichen politischer Schlagseite, sondern Ausdruck wissenschaftlicher Debatte. Wer daraus mangelnde Eignung für das höchste juristische Amt ableitet, verkennt den Kern rechtsstaatlicher Unabhängigkeit.
„Einen solchen Vorgang hat es in der Geschichte dieses Hohen Hauses noch nicht gegeben“
Gerade vor diesem Hintergrund ist die Enttäuschung in der SPD groß. Viele Sozialdemokrat*innen erinnern daran, wie viel sie in den vergangenen Monaten für gemeinsame Absprachen mit der Union investiert haben – etwa beim Familiennachzug, wo man wider die eigene Überzeugung Kompromisse einging, um den Zusammenhalt zu sichern. Doch nun, so der Vorwurf, liefere die Union umgekehrt nicht.
Und im Bundestag reagierte Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann mit scharfer Kritik an Spahn und Merz:
„Einen solches Desaster hat es in der Geschichte der Wahlen zum Bundesverfassungsgericht in diesem Hohen Haus noch nicht gegeben. Die Verantwortung dafür tragen in allererster Linie Sie, Jens Spahn, und auch Sie, Herr Merz.”
Zwischen den Zeilen: Der Preis für ein Machtspiel
Die Vertagung der Wahl war keine Frage juristischer Gewissenhaftigkeit – sie war das Ergebnis politischer Opportunität. Eine hochqualifizierte Frau wurde öffentlich infrage gestellt, nicht weil ihre Eignung bezweifelt werden müsste, sondern weil ihre Überzeugungen nicht ins Weltbild konservativer und rechtspopulistischer Kreise passen.
Britta Haßelmann hat im Bundestag deutlich gemacht, was auf dem Spiel steht:
„Wer am Tag der Wahl die Richterwahl für das Bundesverfassungsgericht absagen lässt, beschädigt das Verfahren, beschädigt die Institution und beschädigt das Vertrauen in dieses Parlament.“
Und sie hat einen Appell ausgesprochen, der über Parteigrenzen hinausreicht:
„Wehrt euch dagegen! Das kann man sich als Frau nicht bieten lassen.“
Was hier passiert ist, war kein normaler Vorgang. Es war eine strategische Grenzverschiebung – mit offenem Ausgang. Die Blockade der Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf ist mehr als ein parteipolitisches Manöver:
Sie ist ein Warnsignal, wie fragil demokratische Verfahren werden, wenn Machtinteressen über Integrität gestellt werden. Ob die Regierung, vor allem die Union, den Mut findet, diesen Schaden zu benennen und zu beheben, wird zur Nagelprobe für die politische Kultur in Deutschland.