Ein Bischof ruft „Skandal!“ – doch der eigentliche Skandal ist der Versuch kirchlicher Einflussnahme
Erzbischof Herwig Gössl bezeichnet die geplante Berufung der Juristin Frauke Brosius-Gersdorf zur Bundesverfassungsrichterin als „innenpolitischen Skandal“.
Erzbischof Herwig Gössl bezeichnet die geplante Berufung der Juristin Frauke Brosius-Gersdorf zur Bundesverfassungsrichterin als „innenpolitischen Skandal“. Der Grund: Ihre Haltung zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Aus meiner Sicht ist jedoch nicht die Kandidatur skandalös – sondern der Versuch, durch kirchlichen Druck demokratische Prozesse zu beeinflussen.
Wer entscheidet in einer Demokratie – das Parlament oder die Kirche?
In einer Demokratie entscheiden gewählte Repräsentant*innen über die Besetzung höchster Staatsämter – nicht kirchliche Würdenträger. Die Trennung von Staat und Kirche ist ein Grundpfeiler unseres Verfassungsstaates. Natürlich dürfen Kirchen ihre Meinung äußern, das ist ihr gutes Recht und bereichert die gesellschaftliche Debatte. Doch wenn kirchliche Vertreter wie Erzbischof Gössl versuchen, mit moralischem Absolutheitsanspruch auf politische Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen – etwa indem sie die Kandidatur einer Verfassungsrichterin öffentlich als „Skandal“ brandmarken –, wird die Grenze zur unzulässigen Einflussnahme überschritten.
Abtreibung ist kein Dogma – sondern eine Frage der Grundrechte
Gerade bei sensiblen Themen wie Abtreibung braucht es einen neutralen Rechtsrahmen, keinen religiös motivierten Dogmatismus. Demokratische Entscheidungsprozesse – insbesondere die Wahl von Verfassungsrichter*innen – sollten frei von kirchlichem Einfluss und religiösem Druck bleiben.
Gössl wirft Befürworter*innen einer liberaleren Abtreibungspolitik eine „Agenda der Intoleranz“ vor. Ich sehe das anders: Es geht um das Recht auf Selbstbestimmung. Dass eine Verfassungsrichterin sich klar für reproduktive Rechte ausspricht, ist für mich kein Skandal – sondern ein Fortschritt für Grundrechte.
Meinung ja – Machtanspruch nein
Kirchenvertreter*innen dürfen selbstverständlich ihre Meinung äußern. Aber sie sollten – so meine Überzeugung – nicht versuchen, durch öffentliche Kampagnen politische Entscheidungen zu beeinflussen, insbesondere nicht bei der Besetzung des Bundesverfassungsgerichts. Das gefährdet die Unabhängigkeit der Justiz.
Was auf dem Spiel steht: Demokratie und Glaubwürdigkeit
Kirchliche Stimmen gehören zur politischen Debatte, solange sie auf Argumente und Überzeugung setzen. Wenn daraus jedoch eine orchestrierte Kampagne wird, die demokratische Verfahren untergräbt oder gezielt Druck auf politische Institutionen ausübt, ist eine kritische Einordnung notwendig.
Das schützt die Demokratie – und letztlich auch die Glaubwürdigkeit der Kirchen selbst.
Die Kritik des Erzbischofs ist aus meiner Sicht kein Ausdruck eines moralischen Gewissens, sondern ein Angriff auf demokratische Verfahren. Brosius-Gersdorf steht für ein modernes, grundrechtsbasiertes Verständnis von Rechtsprechung. Die Kirche sollte das akzeptieren – und sich, bei allem Respekt für religiöse Überzeugungen und persönlichen Glauben, zurückhalten, wenn es um staatliche Entscheidungen geht.