Charlie Kirk – der neue „Märtyrer“ der MAGA-Bewegung
Wie Ultrareligiöse und Rechtsextreme eine neue Bewegung erschaffen, die nur ein Ziel hat: eine autoritäre, christlich-nationalistische Massenbewegung für Trump zu formen.
Es ist Sonntag, der 21. September 2025, 5 Uhr morgens in Phoenix. Das Thermometer zeigt bereits 38 Grad. Ich steige in meinen Leihwagen und fahre Richtung State Farm Stadium, wo heute dem ermordeten Charlie Kirk gedacht werden soll. Ein politisches Mega-Event, minutiös geplant und inszeniert von Turning Point USA, der Organisation, die Charlie Kirk selbst aufgebaut hat. Schon vor Sonnenaufgang campieren Gruppen am Eingang. Sie warten ungeduldig, viele seit Stunden, um sich die besten Plätze zu sichern. Die Stimmung ist aufgeladen, erwartungsvoll – als stünde ein Popkonzert bevor. Der Dresscode: „Sunday’s best“ in Rot, Weiß und Blau. Uniformen für ein uniformes Denken.
Die Straßen zum Stadion wirkten wie eine Pilgerroute. Menschen aus allen Teilen der USA sind angereist, um dabei zu sein, wenn aus Trauer ein historischer Moment für ihre Bewegung werden soll. Sie tragen rote MAGA-Kappen, Shirts mit Kirks Gesicht oder Slogans wie „Save America“. Auf Autodächern flattern Flaggen, aus Boxen dröhnen patriotische Songs. Phoenix ist an diesem Morgen kein Ort des Gedenkens – es ist die Bühne einer Machtdemonstration.
Inszenierung wird Mobilisierung
Drei Stunden vergehen in flimmernder Hitze – immer wieder werden Parolen angestimmt, US-Flaggen geschwenkt, Bibelverse ausgetauscht. Als sich die Einlasskontrollen endlich öffnen, überschwemmt eine Lawine Menschen das Stadion. Drinnen suche ich mir einen Platz am Rand, um das Spektakel auf mich wirken zu lassen. Schon beim Eintreten wird klar: Niemand soll hier das Gefühl bekommen, einfach Zuschauer zu sein. Freiwillige gehen gezielt auf Ankommende zu, Klemmbretter werden gereicht, Wählerregistrierungen unterschrieben.
Im Innenraum: Chöre, Arme nach oben, Tränen in den Augen – eine Mischung aus Erweckungspredigt und politischer Kampfmobilisierung. Das Programm beginnt rhythmisch: erst Lobpreis und Vergebung, dann das Mantra der „Rettung der westlichen Zivilisation“ – alles als Einstimmung auf das politische Hauptprogramm.
Das neue Machtzentrum
Als die eigentlichen Redner auftreten, wird deutlich: Dies ist keine Gedenkfeier, sondern die Bühne für das Machtzentrum der US-Regierung. Präsident Trump, Vizepräsident J.D. Vance, Außenminister Marco Rubio, Gesundheitsminister Robert Kennedy Jr., Verteidigungsminister Pete Hegseth, Berater Stephen Miller – sie alle erscheinen, um ihre Loyalität zu bekräftigen und die Linie vorzugeben. Die evangelikale Szene bildet dabei längst das Rückgrat dieser Regierung: Rund 70 Prozent der weißen Evangelikalen stimmten für Trump. Turning Point USA ist ihre Kaderschmiede, die Jugendbewegung, in der Multiplikatoren herangezogen werden.
Die Redebeiträge sind alles andere als versöhnlich. Stephen Miller, einer der zentralen Architekten der Trump-Politik, nutzt die Bühne für aggressive Abgrenzung. Er zeichnet ein klares Feindbild, beschwört eine „Wir-gegen-Sie“-Mentalität und erklärt politische Gegner pauschal zu Feinden der westlichen Zivilisation. Es ist eine Sprache ohne Grautöne, die die Gesellschaft in Freund und Feind spaltet.
Was diese Rhetorik auf die Spitze treibt, ist die Rhetorik von Trump selbst, als er das Wort ergreift. Er stilisiert Kirk explizit als „Märtyrer“ und knüpft damit an die religiöse Symbolik an, die das gesamte Event durchzieht. Kirk wird nicht als verstorbener Mensch erinnert, sondern als geistlicher und politischer Kämpfer, dessen Opfer angeblich eine neue Bewegung legitimiert. Keine Gnade für Gegner, kein Raum für Versöhnung – sondern Härte, Abgrenzung und Kampf.
Agenda der Ausschlüsse
Das alles ist kein Zufall: Die Agenda bleibt klar. Menschenrechte, Pluralismus, Schutz von Minderheiten – all das ist Feindbild. Die Aussagen und auch politische Programme sprechen eine eindeutige Sprache: Abtreibung verbieten, LGBTQ-Rechte abbauen, Einwanderung radikal begrenzen, Bildungspolitik im Sinne eines „gottgewollten Amerika“ umkrempeln. Wer die Lehrpläne kontrolliert, bestimmt, was Kinder lernen. Es geht nicht um Debatte, sondern um Durchsetzung – um autoritäre Macht.
Ein junger Mann aus Kalifornien sagt mir: „Wir lassen uns unser Land und unseren Glauben nicht nehmen. Project 2025 ist unser Kompass.“ Mir wird bewusst, dass die Argumentation der Führung nahtlos bis an die Basis reicht.
Kulturkampf vs. Evangelium
Was sich in Phoenix zeigte, widerspricht den zentralen Grundlagen des Evangeliums. Die Historikerin Kristin Kobes Du Mez hat in ihrem Buch Jesus and John Wayne beschrieben, wie weiße Evangelikale über Jahrzehnte ein „Hochstapler-Christentum“ geschaffen haben: Religiöse Moral als moralisches Feigenblatt für Machtpolitik. Ein Glaube, der Nächstenliebe, Demut und Respekt durch Feindseligkeit, Ausschluss und Rache ersetzt. Im Kern geht es nicht um Glauben, sondern um Macht. Das Ziel ist ein von weißen, christlichen Männern dominiertes Amerika – jede Abweichung wird als Bedrohung markiert. Christlicher Nationalismus ist damit nicht nur ein Angriff auf demokratische Institutionen, sondern auch ein fundamentaler Widerspruch zu religiösen Werten.
Auch im Alltag zeigt sich dieser Bruch: Nach christlichem Verständnis bedeutet Freiheit vor allem Vielfalt und Respekt. Doch die MAGA-Bewegung lebt von einer „Wir-gegen-sie“-Logik, schafft Feindbilder und hält das Land in einem permanenten Kulturkampf – sei es gegen Feministinnen, Muslime oder die LGBTQ-Community.
Auch viele im Publikum scheinen Spannung zu spüren – Momente echter Trauer auf den Gesichtern, dann wieder die geballte Faust zum Ruf „USA! USA!“. Ich merke, wie tief der Graben reicht und wie sehr religiöse und politische Rhetorik hier verschwimmen.
Machttechnik statt Frömmigkeit
Die Evangelikalen garantieren Trumps Wahlerfolge und sie erwarten klare Gegenleistungen: Richter*innen, die Abtreibung verbieten, Gesetze, die „christliche Werte“ festschreiben, ein Abbau der Gleichstellung. Projekte wie Project 2025 liefern dafür den strategischen Blueprint, eine systematische Rückabwicklung gesellschaftlicher Reformen. Politolog*innen und Kirchenvertreter*innen warnen: Hier geht es nicht um eine kulturelle Debatte, sondern um die Institutionalisierung des christlichen Nationalismus – die geplante Verschmelzung von Staat und Religion zugunsten einer autoritären Elite.
Was das für uns bedeutet
Als ich abends im Auto sitze, laufen immer noch Gruppen auf den Parkplätzen umher, viele feiern, manche beten. Phoenix fühlt sich anders an. Als sei die Stadt für ein paar Stunden aus der Geschichte gefallen.
Was ich hier erlebe, ist kein irrlichternder amerikanischer Sonderweg, sondern ein Alarmsignal, dessen Echo längst bis nach Europa reicht. Evangelikale Netzwerke werben längst in Deutschland und Osteuropa für ihre Agenda. Die US-Bewegung gilt als Blaupause für rechtspopulistische Mobilisierung. Auch hier warnen Kirchenvertreter*innen: Christlicher Nationalismus ist kein Glaubensbekenntnis, sondern ein politisches Programm, das Demokratie und Menschenwürde gefährdet.
Mir bleibt der Satz einer Teilnehmerin im Ohr: „Das hier ist ein Wunder. Gott hat Charlie geopfert, damit wir aufwachen.“
Phoenix war keine Trauerfeier. Es war der Auftakt einer neuen Massenbewegung, die Religion als Waffe missbraucht. Mit Charlie Kirk als Märtyrer verschmelzen Nationalismus, Autoritarismus und religiöser Fanatismus zu einer Kraft, die Amerika nicht nur grundlegend verändert, sondern die Gesellschaft aufeinanderhetzt. Respekt, Anerkennung und Wertschätzung existieren nur noch unter Gleichgesinnten; alle anderen gelten als Feinde. Damit wird nicht nur der politische Diskurs zerstört, sondern auch der Kern christlicher Werte verraten – denn das, was hier gefeiert wurde, hätte Jesus entschieden abgelehnt.
Wer Demokratie und Menschenwürde verteidigen will, darf vor dieser Entwicklung nicht die Augen verschließen.