🇭🇺 Auswandern nach Ungarn: Wirklich so frei?
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Die Debatte über Auswanderungen von Deutschen nach Ungarn ist in manche Foren derzeit präsenter denn je. Besonders seit einige Social-Media-Kanäle am rechten Rand diesen Trend als „Ausbruch in die Freiheit“ stilisieren, kann man sich fragen: Wie viele Deutsche wandern tatsächlich nach Ungarn aus – und wie „frei“ ist das Leben dort wirklich?
🔍 Hintergründe & Motive
Im Jahr 2023 lebten in Ungarn rund 22.310 deutsche Staatsbürger. Nicht nur Rentner*innen oder Menschen mit einem familiären Bezug zum Land zieht es nach Ungarn, auch sogenannte Reichsbürger*innen oder Impfgegner*innen wandern aus, um der deutschen Politik zu entfliehen. In Medien taucht häufig das Narrativ auf, speziell Menschen mit Skepsis gegenüber Migration oder „Wokeness“ und die sogenannte Reichsbürger-Szene suchten gezielt Zuflucht in Ungarn.
Viele der Ausgewanderte berichten, dass sie sich seit der Flüchtlingskrise in Deutschland nicht mehr sicher fühlen. Sie äußern durch mediale Berichterstattung Angst vor Übergriffen durch Geflüchtete zu haben.
Zugleich erklären manche, es gebe in Deutschland eine „Cancel Culture“, in der ihnen verboten werde, bestimmte Begriffe zu äußern. Dass es sich dabei häufig um rassistische Begriffe handelt, bleibt für viele von ihnen nebensächlich.
Man könnte fast sagen, für manche Deutsche, die auswandern, gibt eine vage Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“. In verschiedenen Foren, Telegram-Gruppen und YouTube-Videos wird Ungarn mittlerweile offen als Rückzugsraum für Menschen propagiert, „die noch so leben wollen wie früher“ – mit klaren Rollenbildern, einheitlicher Kultur und konservativen Werten. Doch wie viel Freiheit steckt tatsächlich in diesem Versprechen?
🙅♀️ Orbáns Ungarn
Faktisch befindet sich Ungarn unter Viktor Orbán seit mittlerweile 15 Jahren auf einem illiberalen, autoritären Regierungskurs. Viele grundlegende demokratische Rechte wurden schrittweise eingeschränkt.
Die Pressefreiheit ist massiv unter Druck: Unabhängige Medien wurden aufgekauft, zusammengelegt oder durch wirtschaftlichen Druck verdrängt. Die staatliche Medienaufsicht ist regierungsnah besetzt. Wer kritisch berichtet, wird häufig mit Sanktionen oder öffentlicher Diffamierung konfrontiert.
Die Gewaltenteilung ist heute nur noch eingeschränkt funktionsfähig: Die Regierung kann durch Verfassungsmehrheiten tief greifende Gesetze ohne Kontrolle durchs Parlament beschließen. Politisch missliebige NGOs müssen sich als „auslandsfinanziert“ registrieren – viele werden inzwischen gezielt überwacht.
Auch das Demonstrationsrecht wird konsequent beschnitten: Die diesjährige Pride-Parade in Budapest wurde erneut verboten. Teilnehmenden drohten hohe Geldstrafen, Überwachungskameras filmten trotz Kritik aus EU und Zivilgesellschaft. Gleichzeitig verfolgt das sogenannte Kinderschutzgesetz homofeindliche Ziele – mit drastischen Einschränkungen für öffentliche Sichtbarkeit und sexuelle Bildung.
Eine Illusion von Freiheit für die einen – Repression für die anderen
Ordnung scheint Ungarn attraktiv zu sein. Sie empfinden die Homogenität der Gesellschaft, die Ausrichtung an konservativen Werten oder das restriktive Vorgehen gegen „linke Tendenzen“ als eine Form gesellschaftlicher Entlastung.
Doch diese „Freiheit“ ist keine universell gültige. Sie basiert auf Anpassung – nicht auf Wahlfreiheit. Wer dazugehört, fühlt sich vielleicht geborgen. Aber wer aus der Reihe tanzt, andere Werte lebt, queer ist, politisch engagiert oder nicht zur Mehrheitsmeinung gehört, läuft Gefahr, überwacht, diskriminiert oder politisch ausgeschlossen zu werden.
Auch westliche Auswander*innen müssen sich fragen: Wie sicher ist eine Freiheit, die nur innerhalb normierter Schranken funktioniert? Und was passiert, wenn man irgendwann selbst nicht mehr ins Raster passt?
Leben in der Vergangenheit – Glücklichsein in der Gegenwart?
Eine unbequeme Frage bleibt: Können Menschen, die bewusst vor einem vermeintlichen gesellschaftlichen Wandel in Deutschland fliehen, weil sie sich nach traditionellen Rollenbildern, „alter Ordnung“ oder kultureller Einheit sehnen, in Ungarn tatsächlich glücklicher werden?
Vielleicht – zumindest kurzfristig. Das Gefühl, sich kulturell zu Hause zu fühlen oder die Illusion von gesellschaftlicher Ruhe zu erleben, kann beruhigend wirken. Orbáns Politik verspricht Stärke, Klarheit und Sicherheit.
Doch langfristig bleibt das ein fragiles Konstrukt. Denn eine Gesellschaft, die Rechte nur bestimmten Gruppen gewährt und andere systematisch ausgrenzt, baut keine stabile Zuflucht – sie errichtet neue Mauern. Das, was wie Ruhe wirkt, bedeutet für viele in Wirklichkeit Einschüchterung und Schweigen. Und echte Freiheit sieht anders aus: Sie schützt nicht nur mich, sondern alle.
🕵️♀️ Wir lesen uns am Donnerstag wieder – denn irgendwas passiert ja immer.
Eure Sally aka die Informantin 💜
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📚 Quellen:
Statistisches Bundesamt (2024): Auslandsdeutsche in Ungarn
Statista (2024): „Hauptzielländer der Auswanderer aus Deutschland“
Amnesty International: Berichte zu Pushbacks, NGO-Gesetzen & LGBTQ+-Rechten (2023–2025)
Reporter ohne Grenzen: Lage der Pressefreiheit Ungarn, Jahresbericht 2024
Europäische Kommission: Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn
Freiheit.org: Analyse zum Pride-Verbot 2025
Human Rights Watch: „Hungary: Rule of Law Under Attack“ (2024)
LSVD & Tagesschau: Entwicklungen der LGBTQ-Gesetze
ZDF & Deutsche Welle: EU-Kritik an Ungarn wegen Demokratieabbau (2025)